Später ist keine Option

„Und dann hast Du einfach gesagt, daß Du mich mitnimmst und in die Uniklinik nach Halle bringst?“
Meine Tochter nickt.
„Na ja,“ fügt sie an, “begeistert waren sie nicht, aber was sollten sie machen? Ich habe in Halle angefragt, ob ich Dich dort in die Neurochirurgie bringen kann, und als die nichts dagegen hatten, haben wir Dich eben dorthin gefahren.“
Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Allerdings hatte ich wohl nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht, daß wir 450 km Anfahrtsweg haben würden. Die haben nämlich nicht schlecht gestaunt, als wir morgens um halb eins bei denen auf der Station standen!“
„Und warum hast Du mich nach Halle gebracht?“
Sie überlegt nicht einen Augenblick.
„Nachdem sie den Tumor fanden, schien niemand Dir kurzfristig helfen zu wollen. Es war Weihnachten, die meisten Ärzte im Urlaub und außerdem wollte man Dich „später“ sowieso in ein anderes Krankenhaus verlegen. Das war für mich der Antrieb, mit Dir dort abzuhauen. Mein Vater hatte einen Tumor im Kopf, der schnellstmöglich da raus mußte – da ist „später“ keine Option, dachte ich mir. Und da Du ja sowieso die meiste Zeit geschlafen hast, habe ich die Sache in die Hände genommen.“
So ist sie, meine Tochter.
Da werde ich vom Notarzt in das nächste Krankenhaus gebracht, dort in aller Form aufgenommen und erstversorgt, und schon wenige Stunden später sitze ich auf der Rückbank meines Autos und werde in eine 450 km entfernte Universitätsklinik gebracht.
Warum?
Weil „später“ keine Option ist.
Es ist Zeit, mich bei meiner Tochter zu bedanken.
Danke, Rebecca!
Und es ist Zeit mich bei Tino zu bedanken, meinem Sohn, der nicht bei uns lebt, der aber, als ihn die Nachricht erreichte, spontan alle Termine absagte und mehrere Tage am Stück zu meinem guten Geist wurde.
Nie zuvor war meine Familie so zusammen gerückt, wie in diesen Stunden.
Der Tumor machte es möglich.
Und er sollte noch viel mehr bewirken…

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