Schuld

In den letzten Tagen wird kein Wort so oft durch die Medien getrieben, wie das Wort „Schuld“. Sieht man einmal von „Duisburg“ ab. Und natürlich ist die Frage, wer Schuld ist an der Love – Parade – Tragödie, auch in meinem Kopf angekommen. Dabei fällt mir auf, dass ich schon einmal sehr intensiv über die Frage einer „Schuld“ nachgedacht habe. Das war im Zusammenhang mit dem Motorradunfall meiner Frau und der daraus resultierenden Querschnittlähmung. Ist sie selbst „Schuld“ daran, wie alle denken, weil sie allein auf dem Motorrad sitzt? Oder bin ich „Schuld“, weil ich nicht rechtzeitig erkenne, daß sie übermüdet und mit der Maschine überfordert ist? Oder ist die Straßenmeisterei Bad Harzburg „Schuld“, die es seit Jahren zuläßt, daß eine Landesstraße, die -zig Kilometer mit Tempo 120 befahren werden darf, in einer Haarnadelkurve endet und die sich mit ein paar Warnschildern bis heute aus der Verantwortung stiehlt? Vielleicht aber auch ist eine Freizeitindustrie „Schuld“, die es billigend in Kauf nimmt, das jährlich rund 1000 Menschen allein in Deutschland! tödlich mit dem Motorrad verunfallen und weit mehr noch teils schwerst behindert den Rest Ihres Lebens verbringen?
Eine Antwort auf diese Fragen finde ich bis heute nicht. Im Laufe der Jahre wird mir jedoch klar, dass diese Antwort auch nicht wichtig ist, denn sie ändert nichts.
Genau so wird es in den Familien der Opfer vom letzten Samstag sein. Kurz nachdem die Katastrophe geschieht, bekommen alle die ein Gesicht und einen Namen, die vermeintlich „Schuld“ sind: Der Veranstalter, der Bürgermeister, die Polizei. Die Toten hingegen bleiben eine Zahl. Und während sich das ganze Land auf einen vermeintlich größenwahnsinnigen Bürgermeister einschießt und auf einen natürlich unverantwortlich handelnden, von eigenen Interessen angetriebenen Veranstalter, verstehe ich nicht, weshalb niemand nach der Schuld derer fragt, die all diese Menschen erdrückt haben? Sind nicht auch diejenigen „Schuld“, die, ganz Hinten stehend, drücken und schieben, anstatt zu warten? Sind nicht auch die „Schuld“, die Zeit genug finden, ihre Handycam einzuschalten, aber keine, umzukehren? Sind nicht auch die „Schuld“, die sich heute in den einschlägigen Gazetten ablichten lassen, um zu behaupten, sie hätten jetzt auch zu den Toten gehören können, immerhin seien auch sie auf der Love – Parade gewesen?
Stehen sie zwei, drei oder dreißig Reihen hinter den Toten? Oder direkt dahinter?
Das eine oder andere Opfer wird kurz vor dem eigenen Tod womöglich noch den Vordermann erdrückt haben. „Schuld“?
Oder, sind nicht auch die Medien „Schuld“, die nur allzu dankbar Großveranstaltungen wie die Love – Parade begleiten, erst durch ihre Anwesenheit daraus einen Hype machen und damit millionenfach das Gefühl erzeugen, da müsse man hin?
Mich bringen solche Gedanken nicht weiter. Wüßte ich nicht, daß jeder anständige Mensch angesichts dieser Katastrophe ehrlich erschüttert ist, ich könnte glauben, die zur Schau gestellte Jagd nach wenigen Schuldigen solle von der „Schuld“ vieler ablenken.
„Haltet den Dieb!“ zu rufen, ist jedenfalls einfacher, als eigene Verantwortung zu ertragen.

P.S.: Ein Statement zu den Ereignissen in Duisburg findet in der vergangenen Woche meine Hochachtung und Anerkennung. Ein Mitveranstalter der bisher in Berlin durchgeführten Love – Parade sagt darin sinngemäß, dass man die Risiken einer solch großen Veranstaltung nie gänzlich erfassen und absichern könne. Berlin hätte „einfach nur Glück gehabt.“

01.08.2010

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