Besetzt

Obwohl niemand mir das Autofahren verbietet, fasse ich vorerst kein Lenkrad an.
Um zur Bestrahlung nach Halle zu kommen, nehme ich für die 450 km Anfahrtsweg die Bahn.
Als ich nach über zwanzig Jahren erstmals wieder einen Zug betrete, bin ich unglücklich.
Meine Mitreisenden sind freiwillig hier.
Und kennen sich aus.
Ich kann meinen Koffer schlecht heben, mein Anorak, mein Rucksack entgleiten mir mehrmals, als ich sie ablegen will.
Die linke Hand fehlt mir hier an allen Ecken und Enden.
Die anderen im Wagon starren mich an.
Was hat der für ein Problem?
Schnell setze ich mich auf den ersten freien Platz.
„Da werden Sie nicht lange sitzen können!“
Ein älterer Mann zeigt in der wohl weltweit gültigen „Ich-weiß-was-Haltung“ und mit ausgestrecktem Zeigefinger auf einen Punkt kurz über meinem Kopf.
„Der Platz ist reserviert!“
Gerade der Bühne entkommen, stehe ich wieder im Gang.
„Oldenburg“, steht da.
Ich kombiniere in einer mich selbst verblüffenden Geschwindigkeit, dass in Oldenburg jemand diesen Sitz für sich beanspruchen wird.
„Bis Oldenburg ist der Platz frei!“ sage ich, so laut, daß alle in Sichtweite es hören können.
Noch Minuten später liegen die nicht ausgesprochenen Worte „Du Klugscheißer!“ in der Luft.
Ich setze mich mit größtmöglicher Gelassenheit und sehe triumphierend um mich.
Wer meint, ich hätte vom Bahnfahren keine Ahnung?
Niemand beachtet mich, selbst der Mahner auf der anderen Seite des Ganges hat mich vergessen.
Als der Zug anfährt, bin ich durchgeschwitzt und allein.

  • Erdrutsch in Uganda. Mindestens 86 Tote.

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