Gaston

Als unsere Tochter vier war, wollte sie einen Hund.
Als sie vierzehn war, bekam sie ihn.
Wenig später zog sie in die weite Welt.
Gaston blieb.
Inzwischen ist er fast blind und kann wegen einer Bindegewebsschwäche nicht mehr kacken.
Und so hole ich alle paar Tage seinen Stuhl mit dem Mittelfinger meiner rechten Hand aus ihm raus.
Dass dieser in einem Latexhandschuh steckt, soll nicht unerwähnt bleiben.
In letzter Zeit kommt es schon mal vor, dass ich vergesse, ihn „auszuräumen“.
Dann versucht er, allein damit zurecht zu kommen.
Geht einfach in unseren Garten und hockt dort stundenlang.
Quält sich.
Vielleicht, weil ihm Finger im Hintern auch nicht gefallen.
Gestern ist wieder so ein Tag.
Gaston ist weg.
Hockt auf der Weide, welche an unser Grundstück grenzt.
Versucht, seinen Stuhl loszuwerden.
Manche Hundebesitzer meinen, ihr Hund würde sich „lösen“. wenn er mit den Hinterpfoten unter dem Kinn auf dem Fußweg sitzt.
Fachausdrücke fürs Kacken.
Soweit kommt es noch.
Bei Gaston löst sich jedenfalls nichts.
Ein großer, inzwischen sicher knochenharter Brocken Stuhl hat seinen Enddarm verschlossen.
Allein damit, würde er jetzt sterben.
Mein Hund stirbt nicht, nur weil er nicht mehr kacken kann.
In seiner Not reagiert er nicht auf meine Zurufe.
Das tut er sonst auch nicht, nur geht es da nicht um sein Leben.
Also krieche ich durch die Hecke, die mich von ihm trennt, um ihn nach Hause zu tragen.
Erst, als ich das Gestrüpp durchdringe, fällt mir der Draht dahinter auf.
Auch schon egal, denke ich.
Ich bin in der DDR groß geworden.
Ich kann kriechen.
Gaston sieht mir interessiert zu, gibt seine hässliche Körperhaltung jedoch keine Sekunde auf.
Schon gar nicht, um mir entgegen zu kommen.
Also muss ich komplett unter Hecke und Zaun durch, schnappe mir das Häufchen Elend, das einmal ein super niedlicher kleiner Hund war, und begebe mich auf den Rückweg.
Gaston auf den Händen krieche ich diesmal rückwärts unter dem Draht durch, die Hecke dahinter im Blick.
Letzteres hätte ich lassen sollen.
Denn um das Loch in der Hecke zu finden, muss ich meinen Kopf heben.
Meinen kahlen, schwitzenden Kopf.
Dieser berührt den Draht über mir in Höhe meiner OP- Narbe und ich bekomme einen elektrischen Schlag.
Ein Weidezaun.
Jetzt erst, etwas spät, erkenne ich ihn als solches und verstehe.
Was so ein Stromschlag doch alles bewirkt!

Heute ist der vierte von fünf Tagen meiner vierten Chemotherapie. (Temodal 440mg / Tag)
Seit der zweiten Therapie nehme ich zusätzlich Zofran ein, ein Mittel gegen die Übelkeit.
Seitdem muss ich mich nicht mehr übergeben.
Als ich meinem Arzt sage, damit könne ich auch Salzsäure trinken, versteht er den Witz nicht und erahnt eine Verzweiflungstat.
Ich beruhige ihn und mache solche Scherze nicht mehr.

Aurich, 04.07.2010,

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