Platzangst

Ich bin 18, als ich zum ersten Mal Platzangst spüre.
Ich soll durch einen dunklen Tunnel kriechen, dessen Ende ich nicht sehe, weil er etwa auf halbem Wege einen Knick macht.
Mit meinen breiten Schultern berühre ich die runden Wände, mein Sturmgepäck auf dem Rücken schleift an der Decke der Röhre.
Ich habe unentwegt das Gefühl, stecken zu bleiben.
Warum man als Soldat durch enge Röhren kriechen muss, weiss ich bis heute nicht.
Ich bleibe nicht stecken und erreiche den Ausstieg schweißgebadet.
34 Jahre später stehe ich wieder vor eine Röhre.
Diesmal kann ich ihr Ende sehen, dafür ist sie erheblich enger.
Und ob ich will oder nicht: ich muss hinein.
Ohne diese Röhre, soviel ist klar, sind meine Überlebenschancen geringer.
Nur sie kann ein Rezidiv, einen neu gewachsenen Tumor, möglichst früh sichtbar machen.
Auf dem Blatt Papier, dass eine Schwester mir aushändigt, werde ich danach gefragt, ob ich Platzangst hätte.
Ich vermerke, dass ich Claustrophobiker bin.
Bekomme ich jetzt eine größere Röhre?
Als ich den Zettel, der beweist, dass ich hier freiwillig bin und für alles die Verantwortung übernehme, unterschrieben zurück gebe, wirft die Schwester einen flüchtigen Blick darauf.
„Sie auch?“
Ja, ich auch.
„Da müssen Sie sich nichts draus machen! Etwa drei von zehn unserer Patienten haben Platzangst!“
Na, was bin ich da erleichtert!
Meine Angst ist um nichts geringer als zuvor.
Dank der einfühlsamen und professionellen Unterstützung des Personals schäme ich mich jetzt aber nicht mehr deswegen.
Kramer, reiß dich zusammen, schreie ich mich an.
Und lächle, während ich auf dem elektrischen Schlitten, der mich in das Innere des MRT fahren wird, fixiert werde.
Elektrischer Schlitten, elektrischer Stuhl.
Das Plappern der Schwester wird vom Kopfhörer, den sie mir aufsetzt, gedämpft.
Ich schließe die Augen und spüre, wie die Maschine mich schluckt.

04.07.2010

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