Nur ein Gedanke 2

Wir setzen uns und ich sehe ihr an, wie schwer es ihr fällt, dabei die Haltung zu wahren. Mit den Händen hilft sie einem ihrer Beine in die richtige Position, dann streckt sich ihr Oberkörper, jetzt erst sieht sie mich an.
Die Frau ist krank.
Ich bin krank.
Wir sind krank.
Später soll mir bewußt werden, daß ich ein Schauspiel erleben werde. Ein Schauspiel, dessen Hauptfigur ich bin. Gespielt von einer Frau, die ich nicht kenne.
Doch der Reihe nach.
„Erzählen Sie etwas über sich“, beginnt sie das Gespräch.
„Bevor ich etwas über mich erzähle, hätte ich gern gewußt, wer Sie sind!“
Bevor Sie mir antworten kann, erkläre ich ihr meine Neugier.
Ist sie eine Ärztin mit einer Zusatzausbildung in Psychologie, muß ich ihr nicht erklären, was ein Astrozytom ist.
Ist sie eine Psychiaterin, wäre ich womöglich im falschen Haus. Und ist sie eine Psychotherapeutin im Sinne einer „Heilerin“, dann würde sie an mir keine Freude haben.
„Was also sind Sie?“
Ihre Antwort ist freundlich, direkt, glaubwürdig.
„Ich bin von Beruf Pädagogin, habe mich aber viele Jahre mit der menschlichen Psyche befasst.“
Das ist für eine Pädagogin nie verkehrt, denke ich.
Wäre sie nicht so nett und so krank, ich würde jetzt dennoch aufstehen und gehen.
Pauker bin ich selbst.
Sie ist aber nett und ihre Bemühungen, nicht krank auf mich zu wirken, sind geradezu rührend.
Ich bleibe.
Sie erzählt mir von den vielen Büchern, die sie gelesen und von dem einen, das sie geschrieben hat.
Das wirkt aufgesetzt und berührt mich in diesem Moment unangenehm. Später werde ich es ihr nachsehen.
Nun ist es an mir, etwas über mich zu erzählen.
Ich konzentriere mich auf den Grund meines Kommens, auf meine Klaustrophobie.
Natürlich kann ich nicht von meinen Problemen mit dem MRT sprechen, ohne von meiner Erkrankung zu erzählen.
„Bei Ihnen ist ein Teil des Gehirns abgestorben, bei mir wurde ein Teil entfernt.“
Sie reagiert nicht verletzt, im Gegenteil.
Wir stellen fest, daß ihr Schlaganfall und mein epileptischer Anfall nur wenige Tage auseinander lagen.
Wir erkennen, so empfinde ich das jedenfalls, fast gleichzeitig das Ungewöhnliche daran.
Ein Hirnamputierter sitzt einer Schlaganfallpatientin gegenüber, in der Hoffnung, Hilfe zu erhalten.
Na toll.
Noch während ich überlege, ob ich an dieser Stelle das Gespräch beenden sollte, beginnt sie, daraus ein richtiges Gespräch zu machen.
Wir unterhalten uns.
Lange und ausführlich.
Den Schreibblock mit den aufgedruckten Tierkreiszeichen, ganz offensichtlich eines ihrer sonst verwendeten Hilfsmittel, rührt sie nicht einmal an.
Ich fühle mich wohl bei ihr. Ihre Fragen sind immer mit der Hoffnung auf eine Reaktion durch mich verbunden, das ist ganz offensichtlich. Aber das stört mich nicht. Mitunter scheinen sie mir etwas suggestiv zu sein, aber nicht dumm.
Als sie in meiner Stimme Traurigkeit herauszuhören glaubt, ist das nicht wirklich überraschend für mich.
Aber angenehm, daß sie es bemerkt.
Sie erzählt mir von dem, was sie mit mir machen könnte und was nicht.
Sie könnte mich hypnotisieren, um heraus zu finden, ob ich in meinem Leben ein traumatisches Erlebnis hatte, das meine Klaustrophobie hervorgerufen hat.
„Ich bin potentieller Epileptiker,“ warne ich sie.
„Sie können mich hynotisieren, nur kann es dann sein, daß ich einen Anfall bekomme!“
Sie hypnotisiert mich nicht.
Noch während ich darüber sinne, ob ich mal eine Hypnose riskieren sollte, verlegt sie ihren Sitzplatz an meine Seite.
„Ich bin ja auch Kinesiologin,“ erklärt sie mir. Ich denke, sie erwartet, daß ich weiß, was das heißt.
Ich weiß es nicht.
Und das sage ich ihr auch.
Anstatt vieler Worte fordert sie mich auf, meinen Daumen und meinen Zeigefinger aufeinander zu pressen.
Weil sie dabei meine linke Hand ergreift, versuche ich das auch mit links.
Was deutlich in die Hose geht.
Immerhin spüre ich meine Linke nicht einmal.
Um jede Peinlichkeit auszuschließen, entziehe ich ihr meine linke Hand einfach und stelle ihr die rechte zur Verfügung.
Womit meine erste Erfahrung mit der Kinesiologie ihren Lauf nimmt.

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