Nur ein Gedanke 3

„Sagen Sie einmal „Ja“.
Während ich wie geheißen „Ja“ sage, zieht sie unvermittelt an Daumen und Zeigefinger.
Eben noch aufeinander gepresst, öffnet sich durch ihren Zug der Kreis, den sie bilden.
Als sie ihren Zug aufgibt, schließt er sich wieder.
„Jetzt sagen Sie bitte „Nein“.
„Nein.“
Wieder zieht sie an meinem Daumen und meinem Zeigefinger und ich würde beschwören, daß diese sich weiter und vor allem leichter voneinander lösen, als beim „Ja“.
Ich verstehe.
Sie scheint davon auszugehen, daß positive Signale meine Muskulatur unterstützen, während negative die Spannung herabsetzen.
Na gut, da sie das offensichtlich glaubt, beschließe ich, vorerst auch daran zu glauben.
Wozu bin ich schließlich hier?
Und schon prasselt eine Frage nach der anderen auf mich ein.
Frage. Ziehen an meinen Fingern.
Nein, das ging zu leicht.
Nächste Frage.
Ja, das ging schwer.
Weiter in dieser Richtung.
Nein, war wohl doch nicht die richtige Spur.
Mit der Zeit weiß ich gar nicht mehr, ob sie wegen der letzten Frage an meinen Fingern gezogen hat, oder wegen der nächsten.
Vor allem verstehe ich ihre Fragen nicht, die sie zunehmend direkt an meine Hand richtet.
Immerhin scheinen sich meine Finger und sie gut zu verstehen, denn das Gespräch zwischen den dreien dauert an.
Jetzt hat mein Daumen ihr gerade erzählt, daß ich ein traumatisches Erlebnis zwischen meinem ersten und meinem sechsten Lebensjahr hatte.
Da es jetzt anscheinend spannend wird, höre ich ihr wieder deutlich konzentrierter zu.
„War es im ersten Lebensjahr?“
Meine Finger können sich scheinbar nicht erinnern, jedenfalls ist sie mit der Antwort nicht zufrieden.
„War es im zweiten Lebensjahr?“
Ziehen.
Nö.
Im dritten?
Ziehen.
Nö.
Im vierten?
Ziehen.
Nö.
Im fünften?
Ziehen.
Stop!
Weniger meine Finger, als vielmehr ihre freudige Erregung lassen mich vermuten, daß mir im fünften Lebensjahr etwas Schreckliches passiert sein muß.
Während ich tief in mich gehe, um mich an mein komplettes fünftes Lebensjahr zu erinnern, zieht sie zur Sicherheit noch mal bei „sechs“ und „vier“.
Keine Frage, die fünf war’s.
Jetzt aber, denke ich.
Wo, verdammt noch mal, warst Du 1963, Kramer?
Erinnere Dich!
Ich möchte sie und mich nicht enttäuschen und tatsächlich fällt mir etwas ein.
Warum fällt mir das jetzt und hier ein?
Ich war mit meinen Eltern in einem Schwimmbad, so eines aus Beton mit drei Becken.
Ein Sprung-, ein Schwimm- und ein Nichtschwimmerbecken.
In Letzterem war mein Platz.
Bis zu dem Moment, in dem ich übermütig vom Beckenrand einen Kopfsprung mache.
Ich erinnere mich nicht an die Höhe des Beckenrandes, wohl aber an das flache Wasser:
Ich schlage praktisch ungebremst mit dem Kopf auf den Betonboden des Beckens.
Ein dumpfer Schmerz, ein Knacken sagen mir: hier stimmt etwas nicht!
Ich will weg hier, raus aus dem Wasser!
Völlig desorientiert zielen meine Bemühungen in die falsche Richtung, in Richtung Beckenboden. Wo sind Oben und Unten?
Ich weiß es nicht, komme in Panik, spüre einen Widerstand unter meinen Füßen und stoße mich ab.
Luft!
Als ich wieder bei meinen Eltern eintreffe, hat keiner etwas mitbekommen.
So war das, vor 47 Jahren.
Und jetzt, während eine mir fremde Frau an meinem Daumen rumzieht, fällt es mir ein.
Haben die Panik im Nichtschwimmerbecken und mein Ringen nach Luft im MRT etwas gemein?
Kann das sein?
Ich bin irritiert und entziehe ihr meine Hand, die ohnehin jedes weitere Gespräch verweigern würde.

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