Las Vegas

Vor erst wenigen Wochen hatte ich an dieser Stelle nicht zum ersten Mal angekündigt, nicht weiter in meinem Tagebuch schreiben zu wollen. Inzwischen ist viel passiert und ich habe wieder das Gefühl, erzählen zu wollen. Womit auch der Sinn eines Tagebuches zurückgekehrt ist.
Wie im letzten Monat angekündigt, bin ich jetzt mit meiner Frau tatsächlich in Las Vegas, dies hier schreibe ich mehr oder weniger mühsam auf einem iPad, welches auf meinem Schoß liegt, während ich aus dem 49sten Stock des „Cosmopolitan“ auf die erwachende Stadt sehe.
Wenige Wochen, bevor die Reise hierher losging, hatte ich mich an meinen Hausarzt mit der Bitte um Hilfe gewandt, was meinen psychischen Allgemeinzustand anbetrifft. Er verschrieb mir Psychopharmaka und gab mir die Telefonnummer eines ihm bekannten Psychiaters und Psychotheraupeuten, den ich kontaktieren solle.
Was ich auch tat.
Auf der Maschine, die meinen Anruf in Enpfang nahm, hinterließ ich die Bitte, mich doch bitte zurückzurufen, ich könne Hilfe in einer besonderen Lebenssituation gebrauchen und hätte seine Rufnummer von meinem Hausarzt erhalten. Ich hielt dies als Nachricht auf dem Anrufbeabtworter eines Psychiaters für durchaus ausreichend und angemessen. Schließlich kenne ich diesen Menschen nicht.
Da ich ihn anrief und mich auch vom nicht zu ūberwindenden Anrufbeantworter nicht abschrecken ließ, sollte ihm eine gewisse Dringlichkeit meines Anliegens nicht entgehen können.
Dachte ich.
Zurückgerufen hat er mich 14 Tage später.
Nachdem ich realisiert hatte, wer mich da anrief und ich im Begriff war, mich darüber zu freuen, begann er, mir mitzuteilen, dass er ja eigentlich gar keine Zeit für mich hätte und auch sonst gar nicht wisse, wie und wo er mich unterkriegen solle.
Die Information, dass ich privat versichert bin und er sich um eine angemessene Bezahlung nicht zu sorgen hätte, behielt ich für mich.
Stattdessen bedankte ich mich artig für seinen Anruf, mit dem er jeden zweiten Suizidgefährdeten wahrscheinlich vor den Zug getrieben hätte, und tröstete ihn über seine Terminprobleme hinweg, indem ich ihn wissen ließ, dass ich im Moment ohnehin keine Zeit hätte, da ich im Begriff sei, nach Las Vegas zu fliegen. Ob ihm in diesem Moment der Grad meiner Solvenz bewusst wurde, kann ich nicht beurteilen. Wie aber soll ich mir sonst erklären, dass er plötzlich von einer Kollegin zu berichten wusste, die er im Rahmen einer Weiterbildung für Allgemeinmediziner betreuen würde und bei der es wohl „noch eher“ einen freien Termin gäbe?
Weil er auch dies in durchaus reserviertem und distanzierten Tonfall vortrug, konnte ich aber auch dies keinesfalls als Hilfsangebot werten.
Nach mehr als zwei Wochen, die seit meinem Hilfeersuchen auf seinem Anrufbeantworter vergangen waren, hielt es dieser Mensch für eine gute Idee, mir mitzuteilen, dass er keine Zeit für mich hätte, dass er eine weniger kompetente Kollegin als ihn selbst aber um einen Termin für mich bitten könne.
Wobei er betonte, dass auch dies höchst ungewiss sei.
Spätestens hier hätte sich der bereits erwähnte potentiell Suizidgefährdete wohl mit dem Hörer in der Hand aus dem Fenster gestürzt. Woher sollte der die Kraft nehmen, um bis zum nächsten Bahngleis zu kommen?
Ich jedenfalls sitze jetzt hier auf meinem Hotelzimmer in Las Vegas und überlege, was ich wohl machen werde, wenn in der nächsten Woche mein Telefon klingelt und ein unendlich langsam sprechender Mann mir mitteilt, dass er jetzt Zeit für mich hätte.
Wenn mir die Antwort dazu eingefallen ist, wird mein Tagebuch es zuerst erfahren…

21.10.2011

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