Der Finger in mir

„Und dieser helle Fleck dort, der gehört da nicht hin?“
Der junge Mann, dem ich diese Frage stelle, hat einen weißen Kittel an und hält das Röntgenbild in seiner Hand gegen das Licht an der Decke.
Beides lässt mich vermuten, dass er Arzt ist und meine Frage beantworten kann.
Und tatsächlich zuckt er nicht ratlos mit den Schultern.
Dafür nickt er leider wissend mit dem Kopf.
„Dieser helle Fleck ist wahrscheinlich ein Hirntumor. Mit Gewissheit können wir das aber erst sagen, wenn wir ein MRT haben.“
So wie er das sagt, klingt Hirntumor wie „doof-aber-nicht-zu-ändern“ und MRT wie „Fotografieren“.
Ich nehme seinen lockeren Tonfall auf und lache.
„Das ist ja ein Ding! Seit Jahren habe ich eine Höllenangst davor, an Darmkrebs zu erkranken, meine Mutter und meine Oma sind daran gestorben, und jetzt habe ich keinen Krebs im Hintern, dafür aber im Kopf?“
Er nickt.
Nach einem kurzen Zögern meint er, daß man das doch leicht hätte feststellen können, das mit dem Darmkrebs.
„Na ja,“ sage ich, „dazu hätte man mir aber in meinen Hintern gucken müssen!“
Dass meine Scham das nicht zuließ, steht ungesagt im Raum.
Statt vieler Worte greift er in einen Karton, zieht einen Gummihandschuh über und, das kann doch wohl nicht wahr sein, steckt einen seiner Finger in meinen Hintern!
Das Ganze passiert in Sekunden.
Ich erinnere mich an die nackte Tanzeinlage in meinem Schlafzimmer und denke: „Ist jetzt auch schon egal. Dann ist das wenigstens geklärt.“
Tatsächlich spüre ich von der Tastuntersuchung meines Enddarms nicht viel und freue mich, als es tönt: „Alles in Ordnung!“
Na bitte.
Darmkrebs habe ich also nicht.
Toll.
Aber hat er nicht etwas von einem Hirntumor gesagt?
Egal.
Hauptsache, er nimmt seinen Finger wieder aus mir raus!
Alles andere wird dann schon werden.

26.12.2009

zurück    – 4 –    weiter