Sachen ordnen

Als wir mitten in der Nacht in der Uniklinik ankommen, staunt der diensthabende Arzt.
Meine Tochter hielt es für das Beste, direkt dorthin zu fahren, und hatte uns telefonisch angekündigt.
Dass wir eine Anfahrt von 440 km haben würden, hatte sie, aus Sorge abgewiesen zu werden, am Telefon nicht erwähnt.
Mein Krampfanfall, mein „Grand Mal“, liegt jetzt etwa achtzehn Stunden zurück.
Achtzehn Stunden, von denen ich nur wenig weiß.
Auch an die Ankunft in der Klinik und das Staunen des Arztes, existiert keine eigene Erinnerung.
Überhaupt ist Tag zwei meines neuen Lebens in meinen Erinnerungen nur wenig präsent.
Ich vermute, dass dies weniger an dem Untermieter in meinem Kopf, als vielmehr an einem der wunderbaren Mitteln liegt, die Notärzte mit sich herumtragen.
Ich werde in eine Röhre geschoben, die mir wegen ihrer Enge Angst macht.
Heute weiß ich, daß dies ein „MRT“ ist.
Bereits am nächsten Morgen, sitze ich meinem zukünftigen Operateur gegenüber.
Was auf mich wirkt, als sei es dringend.
Er zeigt auf einen Bildschirm, auf dem so etwas wie das Röntgenbild eines Schädels bzw. eines Gehirns zu sehen sind.
Das erkenne sogar ich.
Und weil er es mir zeigt, und weil in diesem Bild deutlich ein weißer Fleck in der Größe eines Hühnereies zu sehen ist, bin ich mir sicher, daß dies ein Abbild meines Gehirns ist.
Tatsächlich zeigt er auf den weißen Fleck, und sieht mich dabei an.
„Das hier ist der Tumor. Der muß raus!“
Na wenigstens redet er Klartext.
Außerdem steckt er mir nicht den Finger in den Hintern.
Ein sympathischer Arzt, denke ich.
„Natürlich nur, wenn Sie das wollen!“, fährt er fort.
„Nein, ich will meinen Tumor behalten, du Arsch!“ geht es mir durch den tumorfreien Teil meines Kopfes.
Und leider auch über meine Zunge.
Jedenfalls der erste Teil.
Er ist kurz verwirrt, erkennt dann aber doch recht schnell, daß ich zu Scherzen aufgelegt bin.
Tumor ist schließlich, wenn man trotzdem lacht!
Um ganz sicher zu sein, daß ich richtig verstanden werde, füge ich dennoch hinzu:
„Holen Sie das Ding raus! So schnell wie möglich! Oder was würden Sie an meiner Stelle tun?“
„Was würden Sie an meiner Stelle tun?“ wird ab diesem Moment zu meiner Standardfrage, wenn Ärzte eine Entscheidung von mir wollen.
So bringe ich sie so dazu, sich in meine Lage zu versetzen, was sich als ziemlich schlau herausstellt.
Denn ausnahmslos alle Ärzte, denen ich so antworte, überlegen sehr genau, was sie mir erwidern.
Keine Phrasen, keine gespielte Sicherheit.
Alle Antworten, die ich so einfordere, helfen mir, selbst die schwersten Entscheidungen in kürzester Zeit zu treffen.
Wie banal das Leben manchmal ist!
„Ich würde mich schnellstmöglich operieren lassen!“
„Gut, dann operieren Sie mich!“
Nachdem er einen Physiker telefonisch aus dem Urlaub geholt hat, „der muß uns helfen, den Tumor zu lokalisieren“, vereinbaren wir, die Operation am 5. Januar 2010 vorzunehmen.
Er und ich, sozusagen.
„Bis dahin würde ich Ihnen empfehlen, Ihre Sachen zu ordnen!“
Ich erspare mir, ihn zu fragen und weiß auch so, dass er an meiner Stelle das Gleiche täte.
Die Sachen ordnen.
Es ist der 28.12.2009, als meine Kinder mich für wenige Tage noch einmal nach Hause bringen.
Noch einmal?
Das letzte Mal?
Noch drei Tage bis Silvester.
Noch acht bis zur OP.

28.12.2009

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