Silvester

Der 30. und 31. Dezember 2009 sind zwei der intensivsten Tage meines Lebens.
Vergleichbar nur mit dem Tag im August 1998, als meine Frau mit dem Motorrad verunfallt und seitdem querschnittgelähmt ist.
Auch damals funktioniere ich wie eine Maschine.
Im Unterschied zu diesmal, hatte ich damals aber keine Angst, vielleicht schon in wenigen Stunden tot zu sein.
Also bemühe ich mich jetzt, jeden Gedanken auszusprechen.
Später würde ich es vielleicht nicht mehr können.
Ich weise meine Kinder und meine Frau in die letzten Geheimnisse meines Lebens ein.
Konten, Verträge, Passwörter, Schulden, Vermögen, die PIN meiner EC-Karte.
Alles.
Ständig getrieben von der Angst, ich könne etwas Wichtiges vergessen, zeige ich meiner Familie, was bislang mein Leben war.
Jetzt wird es in nur wenigen Stunden zu einem Teil ihres Lebens.
In den letzten Minuten des Jahres 2009 schreibe ich mein Testament.
Überall auf der Welt wird jetzt gefeiert.
Auch auf Haiti.
Als die Raketen fliegen, ist alles erledigt.
Fast alles.
Denn etwas Wichtiges ist noch zu tun:
Was geschieht, wenn ich die Operation überlebe, aber schwer behindert bin?
Wer soll an meiner Stelle über und für mich entscheiden, wenn ich als Folge der Operation bleibende geistige Schäden davon trage?
Für mich kommt dafür nur ein Mensch in Frage: meine Frau, mit der ich seit über 30 Jahren zusammen lebe.
Und so überzeuge ich einen mir bislang fremden Notar davon, sich mit uns am Sonntag, den 3. Januar 2010, in dessen Büro zu treffen.
Es ist der Tag, an dem ich mich vollständig und endgültig in meine Frau verliebe.
Sie wird ab jetzt an meiner Stelle jede nur denkbare Entscheidung treffen können und müssen, wird Zugang zu allen Konten, zu jeder ärztlichen Akte haben.
Als ich die vollumfängliche Vollmacht unterschreibe, ist ein Gefühl tiefer Dankbarkeit in mir.
Ich habe mein Leben mit einem Menschen teilen dürfen, dem ich mich voll und ganz anvertrauen kann, in dessen Händen meine Zukunft besser aufgehoben ist, als in meinen eigenen.
Würde es diesen kalten Januarmorgen im Büro des Notars nicht geben, wäre mir dieses Privileg womöglich nie bewußt geworden.
Als wir wieder zu Hause eintreffen, bin ich für alles, was da kommen wird, bereit.
Noch zwei Tage bis zur OP.

03.01.2010

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