Besuch

„Oh nein. Nicht schon wieder!“
Nur das kurze Licht hat verraten, daß die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde.
Jemand ist in meinem Zimmer.
Ich habe wieder Stunde um Stunde wach gelegen und bin vermutlich erst vor wenigen Augenblicken eingenickt.
Jetzt bin ich wieder hellwach.
Habe ich geträumt?
„Oh nein. Nicht schon wieder!“
Eine Stimme.
Kein Traum.
Aber, wer ist jetzt, morgens um etwa 3 Uhr, in meinem Zimmer?
Vor Aufregung zitternd, suche ich den Schalter für das Notlicht.
Wenn man ihn schon mal braucht, denke ich.
Tatsächlich finde ich ihn nicht und drücke auf alles, was mir zwischen die Finger kommt.
Irgendeines der Lichter in diesem Zimmer leuchtet plötzlich auf.
Ich bin kurz geblendet und sehe direkt in ein fremdes Gesicht.
Ich sehe große Augen und einen Mund, aus dem Speichel läuft.
Die großen Augen sehen direkt in meine.
Ein Irrer in meinem Zimmer!
Er ist groß.
Sehr groß.
Seine Haare hängen ihm wirr in die Stirn, seine Hände versuchen fahrig, den Speichel vom Kinn abzustreifen.
„Das ist nicht Ihr Zimmer!“
Er zuckt zusammen.
„Oh nein. Nicht schon wieder!“
Er setzt sich auf den einzigen vorhandenen Stuhl gegenüber der Zimmertür.
Sofort steht er wieder auf, setzt sich wieder. Steht auf, geht in Richtung Tür, geht zurück zum Stuhl.
Sieht mich an, sieht durch mich hindurch.
Setzt sich.
Zwischen ihm und mir ist nur mein Nachtschrank. So groß, wie er ist, habe ich nicht die geringste Chance, sollte er sich auf mich stürzen.
Mein Kopf ist noch immer verbunden, der zentrale Venenzugang in meinem Hals baumelt einladend, herausgerissen zu werden, vor meiner Brust.
Langsam drücke ich den Rufknopf an meinem Bett, den ich erst jetzt endlich sehe und den ich bisher noch nie verwendet habe.
Sicher sind es nur wenige Sekunden, bis sich eine freundliche Stimme meldet.
„Zentrale. Was kann ich für Sie tun?“
„Auf meinem Zimmer ist ein verwirrter Mann und ich bin allein mit ihm.“
Das ist doch jetzt nicht wahr, denke ich.
Das kann man sich aber auch nicht ausdenken.
„Ich schicke jemanden von der Station vorbei!“
„Schnell“, denke ich, konzentriere mich aber wieder auf meinen Besucher, der meinen Dialog mit der Wechselsprechanlage aufmerksam verfolgt hat.
Als ich sage, daß ein verwirrter Mann in meinem Zimmer ist, stöhnt er auf.
„Oh nein. Nicht schon wieder.“
Schritte nähern sich, die Tür fliegt auf, das Deckenlicht springt flackernd an.
„Ach, das haben wir uns schon gedacht! Du bist das! Was machst Du denn im Zimmer von Herrn Kramer?“
Ich atme tief durch und begebe mich voll und ganz in den Schutz der beiden eintretenden Schwestern.
„Kennen Sie ihn?“, frage ich.
Anstatt einer Antwort, spricht eine der beiden ihn beim Vornamen an.
„Du sollst doch in Deinem Bett sein! Warum bist Du denn nicht in Deinem Bett?“
Er starrt auf seine Hände, starrt in das Gesicht der Schwester, auf seine Hände, auf mich und stöhnt auf.
„Oh nein. Nicht schon wieder!“
Die zweite Schwester wendet sich mir zu.
„Er hat einen Hirntumor.
Vor drei Jahren hat ihm ein Arzt gesagt, daß er noch drei Jahre leben wird.
Jetzt denkt er, seine Zeit ist um.“
Oh Gott!
„Er war Busfahrer“, fährt sie fort.
„Wir kennen ihn noch aus den Anfängen seiner Krankheit.“
Sie zeigt auf den inzwischen Wimmernden und fügt an: „Das war mal ein Baum von einem Mann.“
„Ich habe auch einen Hirntumor,“ sage ich.

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