Suizid

Wann immer ich mit einem Suizid konfrontiert werde, bin ich erschüttert.
Das Leben, meine eigene Existenz, sind Wunder, denen ich immer schon mit großem Staunen begegne.
Wert, geschützt zu werden.
Als Kind bin ich Zuschauer, als andere Kinder einen Frosch über dessen Darmausgang mit Hilfe eines Strohhalms aufblasen und dann auf die Gleise einer Eisenbahn setzen.
Die Freude der anderen, als der Zug kommt, ist das Entsetzen in mir.
Noch heute, fast 50 Jahre später, quält mich die Vorstellung, wie ich tatenlos zuschaue.
Ich kann keiner Fliege etwas antun.
Spinnen faszinieren mich, auch wenn ich deren Opfer am liebsten retten würde.
Menschen, die Spinnen mit dem Staubsauger töten, verachte ich.
Nicht deren Phobie stößt mich ab.
Es ist die Art, wie sie damit umgehen.
Winzige Lebewesen, wahre Wunder der Natur, müssen qualvoll sterben, weil vergleichsweise riesige Menschen sich vor ihnen ekeln und nicht einmal danach fragen, warum das so ist.
Überhaupt bemühe ich mich mein Leben lang darum, Leben nicht zu zerstören.
Weshalb auch nie ein Angler aus mir wird.
Einen Wurm aufzuspießen, bringe ich nur einmal fertig.
Für den Rest meiner Kindheit kommt Brötchenteig an meine Haken.
Was aber soll ich mit dem Fisch?
Für meine Kinder will ich an diesem Defizit arbeiten und gehe mit ihnen Angeln.
Den großen Fisch, den wir tatsächlich fangen, lassen wir sofort wieder frei.
Den Rest des Tages rudern wir.
Nach dem Verbleib der Angel fragen mich die beiden niemals.
Ich bin Anhänger der Evolutionstheorie, auch wenn diese nicht alle meine Fragen beantwortet.
Vor allem nicht die nach den Anfängen der Welt.
Ich staune, wie gelassen Wissenschaftler vom Urknall sprechen und sich damit zufrieden geben.
Da ich keine bessere Theorie habe, hilft auch mir dieser Begriff, mich dem Unbegreiflichen zu nähern.
Ich bin fasziniert von der Vorstellung, daß es mich ohne den Urknall und die vielen Milliarden Jahre Evolution nicht gäbe.
Was für ein Glück, das Leben.
Jetzt, nachdem der nächtliche Besuch eines geistesgestörten Tumorpatienten mir einen erschreckenden Blick in eine mögliche eigene Zukunft verschafft, denke ich darüber nach, meines vorzeitig zu beenden.
Ich will nicht sabbernd durch dunkle Krankenhausflure irren.
An Selbstmord denke ich dabei nicht, denn natürlich will ich niemanden ermorden.
Auch mich nicht.
Ich habe keine niederen Beweggründe und heimtückisch wird es auch nicht passieren.
Ich denke darüber nach, mich selbst zu töten.
Vor allem, über das Wie.

09.01.2010

Seit meiner Erkrankung verstehe ich, warum es Menschen gibt, die sich aus Angst vor dem Tod das Leben nehmen. Nur warum nennt man es „Selbstmord“? „Selbstmord“ ist ein dummes Wort. Benutzt von Menschen, die nicht nachdenken über das, was sie sagen. Menschen, die sich selber töten, ermorden sich nicht. Wie soll das gehen? Was ist so schlecht am Begriff „Suizid“, dass selbst Ärzte ihn nicht gebrauchen, geschweige denn einschlägige Gazetten? Wer einem Menschen, der sich selbst getötet hat, nachsagt, er hätte sich selbst ermordet, der tritt noch einmal nach. Und merkt es nicht einmal.

15.08.2015

zurück    – 21 –    weiter