Hilfe

„Haben Sie schon einmal an Selbstmord gedacht?“
Er sagt tatsächlich Selbstmord und ich bin kurz versucht, ihn zu korrigieren.
Da ich mit dieser Frage gerechnet habe, konzentriere ich mich jedoch erst einmal auf meine vorbereitete Antwort.
Schließlich möchte ich diese Praxis als freier Mensch verlassen.
„Wenn jemand in meiner Situation nicht an Suizid denkt, sollte er sich einen Psychologen suchen.
Natürlich denke ich daran, mir das Leben zu nehmen.“
Er blickt überrascht von seiner Tastatur auf, mit deren Hilfe er seit 10 Minuten an meiner Psyche arbeitet.
„Weshalb glauben Sie, daß das natürlich ist?“
„Weil ich außer mir niemanden kenne, der von seiner querschnittgelähmten Frau auf der Neurochirurgie besucht wird.“
Jetzt tut er mir leid, wie er in seinem Psychologensessel sitzt und nach einer Psychologenantwort sucht.
Was er sagt, ist nicht so schlecht, wie ich es erwarte.
„Wissen Sie, Herr Kramer. Was Sie mir da erzählen, erlebe ich auch nicht jeden Tag. Ich glaube, darüber sollte ich erst einmal nachdenken.“
Ich halte Nachdenken, bevor man etwas sagt, grundsätzlich für eine gute Sache und bestärke ihn in seinem Vorhaben.
Um das Gespräch nicht jetzt schon beenden zu müssen, frage ich ihn, mit welcher Art von Problemen die Leute denn sonst zu ihm kommen.
„Burnout, Existenzängste, so`n Zeug eben. Mit Ihnen gar nicht zu vergleichen!“
Wie er das sagt, macht es mich ein bißchen stolz, ihn mit einem echten Problem zu belästigen.
Blöd nur, daß er dafür keine konfektionierte Lösung auf seinem Monitor findet.
Auch ihm ist das jetzt aufgefallen und er schaut mich an.
„Wissen Sie, in unserer Gesellschaft machen die Menschen viel zu viele und vor allem viel zu weitreichende Pläne. Lebensplanungen von 20, 30 Jahren sind eher die Regel, denn die Ausnahme. Sie müssen nur einmal an Baufinanzierungen oder Lebensversicherungen denken. Wenn dann so etwas passiert, wie ihnen gerade, entstehen Lebenskrisen. Die gemachten Pläne lösen sich in Luft auf, alles kommt durcheinander. Am Ende auch die eigene Psyche.“
Obwohl das, was er sagt, jetzt doch irgendwie konfektioniert klingt, hat er meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
„Hören Sie auf, Pläne zu machen.
Leben Sie im Hier und Heute.
Genießen Sie den Tag, das schöne Wetter.
Leben Sie.
Wann Sie sterben, wird sich zeigen, wir wissen es nicht.
Auch ihre Ärzte wissen es nicht.
Wir wissen nicht, warum Sie Krebs haben. Wie sollten wir dann wissen, wie lange Sie damit noch leben werden?“
An diesem Abend schlafe ich erstmals seit Wochen.
Im Hier und Heute.

26.01.2010

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