Nachtunruhe

Ich bin privat versichert, auch ein Einzelzimmer würde mir durch meine Versicherung bezahlt. Nur konnte bei der Bettenplanung keiner ahnen, daß ich meine Nüchternheit einatmen und noch eine Nacht dableiben würde.
Inzwischen, soviel steht fest, macht das besorgte Gesicht meines Anästhesisten Sinn.
Sicher wußte er von dem 4-Bett-Zimmer, das er mir eingebrockt hat.
So schlecht ist Totsein vielleicht gar nicht.
Ein 4-Bett-Zimmer voller alter Männer läßt mich etwas von der Gnade des frühen Todes spüren.
Einer erzählt bis zu dem Augenblick, in dem ein Neuzugang das Zimmer betritt, von seiner Wehrdienstverweigerung zu Zeiten der DDR und seiner daraus resultierenden Inhaftierung. Der Neuzugang fragt wenig später in die Runde, wer denn eigentlich die jungen Männer erziehen solle, wo doch jetzt die Wehrpflicht abgeschafft wird?
Was er beruflich macht?
„Jetzt bin ich bei der DEKRA.“
Im Wörterbuch „Ostdeutsch – Deutsch“ findet sich unter „Jetzt bin ich bei der DEKRA“ folgender Eintrag:
„Früher war ich bei der Stasi und/oder NVA und arbeite jetzt in meinem ehemals zivil erlernten Beruf.“
Am zwanzigsten Jahrestag des Beitrittes der DDR zur Bundesrepublik teilen sich ein Ausgereister, ein politisch Inhaftierter und ein „Heute-bin-ich-bei-der-DEKRA“ ein Zimmer. Da sage noch einer, die deutsche Wiedervereinigung mache keine Fortschritte.
Sind es die fehlenden Gesprächsthemen oder der zurückliegende Stress?
Um kurz nach neun ist Nachtruhe.
Schon wenig später ist nur noch Nacht.
Von kurzen Erstickungsanfällen unterbrochen, röchelt sich mein Bettnachbar durch den eigenen Schlaf.
Bin ich der Einzige, den das stört? Wieso liegt der Pazifist so ruhig?
Der muß tot sein!
Ich stecke mir meine iPhone – Kopfhörer in die Ohren und hoffe auf Linderung.
So laut, dass ich das Schnarchen nicht höre, kann ich die Musik gar nicht machen, dann bin ich in Kürze taub. Und schlafen kann ich so auch nicht.
Ein Tag voller Nüchternheit, eine mißlungene Narkose und ein noch immer ausstehender Befund meiner MRT – Untersuchung liegen hinter und eine schlaflose Nacht vor mir.
So klingt es, wenn die DEKRA schläft.
Die Stunden wollen nicht vergehen, noch dazu mich die Frage martert, wie die MRT – Auswertung verlaufen wird: Gibt es ein Rezidiv, einen neuen Tumor? Haben Bestrahlung und Chemotherapien geholfen, mir Zeit verschafft?
Als es dämmert, stehe ich auf und laufe auf dem Stationsflur auf und ab.
Ich sehe einen Daumen, der sich hebt, der sich senkt. Der sich hebt.
Laß ihn schnarchen, am Tag 1 seines Hirntumors. Ich werde ihn nicht stören und den Oropaxifisten auch nicht.
Die Frühschicht kommt.
Na denn.

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