Bewußter leben

Unzählige Male habe ich in den letzten Monaten gehört, ich würde doch jetzt sicher „bewußter leben“.
Ich habe darauf nie geantwortet.
Denn, ich weiß nicht, was es bedeuten soll, dieses „bewußter leben“.
Bedeutet es, jeden Tag ans Sterben zu denken und dadurch die Tatsache, noch zu leben, als großes Glück zu empfinden?
Ich kann das nicht.
Wie soll das gehen?
Soll ich den Gänsen, die laut schnatternd durch die Dunkelheit in Richtung Süden ziehen, hinterher lauschen und den Moment „bewußter“ genießen, weil ich sie vielleicht nie wieder höre?
Nein, so funktioniert das nicht.
Nur, wenn ich meine Krankheit für Augenblicke vergesse, kann ich Glück empfinden.
Kann meiner Enkelin zuschauen, wie sie die Oma bedrängt, ihr noch eine Geschichte vorzulesen.
Kann mich auf ein Treffen mit meinen Kindern freuen, auf einen schönen Film am Abend.
In diesen Minuten, in denen ich nicht an den Tumor denke, erlebe ich die Welt wie jeder andere, gesunde Mensch auch.
Endet das Vergessen, endet auch das Glück.
Meine Krankheit läßt mich nicht bewußter leben.
Nur kürzer.

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