Offenes Buch

Sie ist nett, vor allem erzählt sie Dinge, die ich verstehe.
Meine Schultergelenksschmerzen haben mich zu ihr gebracht.
Krankengymnastik und ich sind zwei Sachen, die bislang nichts miteinander zu tun hatten.
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich daran nichts Merkwürdiges finde.
Und so sitze ich ihr mit meinen knapp 25 kg Übergewicht gegenüber und versuche, auch im Unterhemd gut auszusehen.
Spätestens, als ich ihr die eingeschränkte Motorik meiner linken Hand demonstrieren will und dabei eine Duftkerze samt Wasserbad umwerfe, ist es damit vorbei.
Na jedenfalls war meine Demonstration überzeugend.
Die nächsten Minuten werden zu einer Offenbarung:
Sie macht mir deutlich, daß die Störung meiner Motorik am Rande einer Spastik verläuft, daß Reflexmuster aus gesunden Tagen bis heute nachwirken und ich deshalb zwanghaft Fehlstellungen einnehme.
Sie korrigiert hier, führt dort, und schon nach wenigen Minuten spüre ich eine deutliche Verbesserung des schmerzfreien Freiheitsgrades meiner linken Schulter.
Das ist magisch.
Mein Körper und ich gehen wieder ein Stück aufeinander zu. Mein Kopf gibt konkrete Bewegungsanweisungen, mein Körper führt diese so exakt wie möglich aus, wofür er mit Schmerzlinderung belohnt wird.
Wow!
Ich bin ehrlich beeindruckt und werde in diesen wenigen Minuten optimistisch, meine Gelenkschmerzen loszuwerden.
Gewiss werde ich über Krankengymnastik nicht mehr abfällig denken.
Das allein ist eine Überraschung.
Als ich gerade in mich hinein spüre und die eben verspürten Besserungen bestätigt finde, macht sie mich auf einen ihrer Meinung nach ebenfalls wichtigen Aspekt meiner angestrebten Schmerzfreiheit aufmerksam.
„Angst und Stress sind zwei Faktoren, die sich sehr nachteilig auf unser körperliches Befinden auswirken. Fällt ihnen dazu etwas ein?“
Genau so gut könnte sie einen Verdurstenden fragen, ob ihm zum Thema Wasser etwas einfällt.
Das sage ich ihr nicht, weiß aber schon Sekunden später, daß ihr das bewußt war, als sie die Frage stellte.
„Ich habe Ihre Seite gelesen.“
Scheiße.
Erst der Krebs und jetzt bin ich ein offenes Buch.
Wer von denen, die mir heute begegnet sind, kennen mein Tagebuch noch?
Mit deutlich weniger Schulter-, dafür aber deutlich mehr Kopfschmerzen verlasse ich die Praxis.
Ein offenes Buch für jederman.
Das ist nicht gut!

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