Knoten geplatzt

Am Tag 2 meiner 8. Chemo geht es mir gut. Als hätte mein Körper darauf gewartet, daß ich aufhöre, mich selbst zu belügen, schmerzen mich Bewegungen so wenig, wie seit Monaten nicht mehr. (Keine Angst, ich bereite hier nicht den Boden für ein neues Therapiewunder.)
Ich muß mich nicht mehr damit auseinandersetzen, ob ich mir sinnlos erscheinende Hilfsangebote annehmen muß, um der Erwartungshaltung meiner Umwelt gerecht zu werden.
Ich muß nicht fürchten, mir später Vorwürfe zu machen, weil ich diesem oder jenem „alternativen“ Therapieansatz nicht gefolgt bin.
Als hätte ich meinen Kopf ausgefegt, als wäre ich endlich wieder ich selbst, naturwissenschaftlich gebildet und mit beiden Beinen fest auf dem Boden, muß ich nicht weiter verquere anatomische Vorstellungen akzeptieren, nur, um mich „offen“ für “ Denken, abseits schulmedizinischer Trampelpfade“ zu zeigen.
Und auch mein Tagebuch hat jetzt eine neue, eine sinnvolle Bedeutung erhalten.
Ich werde ab jetzt jedes mir absurd vorkommende „Hilfsangebot“ als das benennen, was es ist, als absurd.
Ich werde nicht weiter stillschweigend hinnehmen, daß man mich und andere Schwerkranke zu Idioten erklärt, denen man jeden nur denkbaren pseudowissenschaftlichen Dreck verkaufen kann.
Als ich gestern in der Apotheke auf meine neue Ladung Temodal wartete, stand ich vor einem Regal, das mit „Dr. Bachs Notfalltropfen“ bestückt war.
Überhaupt war alles in meinem Blickfeld Befindliche „natürlich“, „alternativ“, wenigstens aber „bekannt aus dem TV“.
Die Apotheken machen ganz offensichtlich mit, gehören vielleicht sogar zu den größten Gewinnern des allgegenwärtigen Rückfalls in mittelalterliches Denken.
Mich widert all das nur noch an.
Ich werde mir nicht mehr Gedanken darüber machen, warum jemand die Operation seines Hirntumors, im Unterschied zu mir, ablehnt.
Soll er doch.
Ich werde mich nicht mehr fragen, ob es nicht auch „natürliche“ Alternativen zur Chemotherapie gäbe.
Gerade Letzteres wabert durch die Krebsforen im Netz wie eine eigene Krankheit.
Wie viele Krebspatienten sind verzweifelt darum bemüht, „keine Chemie“ an ihren Körper zu lassen?
Als wäre die „Chemie“ das Übel, wovor es den Krebs zu schützen gelte, werden „Behandlungen“ mit Mistelextrakten diskutiert!
Schwer Krebskranken wird mit großer Ernsthaftigkeit eine Umstellung ihrer Ernährung empfohlen, die passende Produktadresse nicht selten gleich dabei.
Ich darf seit gestern wieder „Humbug“ zu all dem sagen, ohne mich fragen zu müssen, ob ich damit eine Chance verspiele.
Was für ein tolles Gefühl!

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