Zeitkonto

Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht „eingeladen“ werde, mich auf irgendeiner Internetplattform anzumelden.
Waren es früher Yahoo, AOL und ICQ, sind es heute vor allem die sogenannten Social Networks, die mich nicht in Ruhe lassen. Irgend jemand ist immer gerade irgendwo frisch angemeldet und lädt mich ein, ihm oder ihr „zu folgen“. Ich soll elektronische Grußkarten öffnen, mitteilen, in welche Schule ich ging, was ich gerade tue, ob ich diesen oder jenen vielleicht auch kenne u.v.m.
War das anfangs nur lästig, wird es mehr und mehr zum Ärgernis.
Denn, das alles ist keineswegs kostenlos!
Wären es nur ein paar Euro, die ich dafür aufwenden müßte, ich wollte mich nicht beschweren. Denn natürlich ist die eine oder andere Funktion ganz nützlich oder unterhaltsam.
Nur ist es mit ein paar Euro leider nicht getan.
Ich bezahle all dies mit dem Wertvollsten, das ich besitze, mit meiner Lebenszeit.
Und wie bei einem überzogenen Bankkonto irgendwann nichts mehr geht, so ist auch mein Zeitkonto bald schon im Minus und droht zu platzen.
Ginge es, um beim Bild zu bleiben, tatsächlich um Geld, würde mir meine Bank schon lange das Konto gekündigt haben.
Mein Lebenszeit-Konto, eröffnet vor 52 Jahren, geht immer rasanter der Null entgegen. Anstatt sparsam mit dem verbliebenen Rest umzugehen, verplämpere ich immer mehr meiner Zeit mit dem Internet.
Kaum nehme ich mir vor, weniger oft online zu sein, erreicht mich die nächste Aufforderung, mich da oder dort anzumelden, soll ich entscheiden, ob ein mir bislang Fremder mein Freund sein darf u.s.w..
Und so greife nicht nur ich auf mein Lebenszeit- Konto zu, sondern auch meine Bank, die mich zwingt, ihr online die Arbeit zu verrichten (wofür ich dann noch bezahlen muß), die Telekom, die mir keine Rechnungen mehr schickt, sondern von mir erwartet, daß ich mir diese selbst ausdrucke u.v.a.
Die Post wollte mich auch schon dazu überreden, mir meine Briefe selbst zuzustellen, in letzter Minute habe ich mich dieser Offerte verweigert.
Ich muß jetzt aber aufhören.
Mein neuer Personalausweis hat 29 Euro gekostet und hat einen Chip, damit ich mich auch online ausweisen kann. Ich weiß noch nicht wie, auch noch nicht wo, aber, das herauszufinden, sollte mit Hilfe des Internets ja kein Problem sein…

zurück    – 145 –    weiter