Neue Ufer

„Nach einer Tumoroperation ist nichts mehr, wie es einmal war.“ Dieser Satz im Kommentar eines Lesers bringt es auf den Punkt. Jetzt, wo die positiven Nachrichten der letzten Nachuntersuchung mir Zeit zum Durchatmen geben, beginnt das Aufräumen in meinem Kopf.
Mehr als 18 Monate nahezu ununterbrochene geistige Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod haben Spuren hinterlassen. Wie schwer diese Last mich drückte, merke ich erst jetzt, wo ich sie absetzen durfte.
Und während ich mit jeder Faser meines Körpers die schlagartige Entspannung spüre und genieße, stellen sich Fragen ein.
Wann hat sich der Tumor in meinem Kopf gebildet? Wie lange war er ein Teil von mir, ohne dass ich ihn bemerkte? Als „Raumforderung“ in meinem Gehirn drängt sich außerdem die Frage auf, ob bzw. in welchem Maße er mein Wesen, meine Gefühle, mein Urteilsvermögen, inwieweit er meine Entscheidungen beeinflusst hat!?
Welche meiner Gedanken in der Zeit mit einem Tumor in meinem Gehirn sind von ihm manipuliert?
Doch nicht allein die Zeit vor dem ersten epileptischen Anfall, der, wie ich jetzt vermute, gar nicht der erste war, denn für einen Zusammenbruch knapp zwei Jahre zuvor war irrtümlich der Vorbote eines Herzinfarkts verantwortlich gemacht worden, wirft im Rückspiegel Fragen auf.
Denn inzwischen steht für mich außer Frage, dass die konkrete Angst vor dem eigenen Tod, über Monate mein ständiger Begleiter, dass Operation, Bestrahlungs- und Chemotherapie mich verändert haben. Lese ich heute in meinem Tagebuch, fühlt sich mancher Eintrag an, als hätte ich ihn nicht selbst geschrieben, wühlen mich die Erinnerungen auf und geben einen Hinweis darauf, was ich in diesen Monaten durchlebte.
Jetzt möchte und muß ich trennen zwischen dem, was mich selbst in dieser Zeit ausmachte und dem, was dem Tumor und seinen Folgen geschuldet ist.
Nachdem ich die letzten Monate geschafft habe, werde ich auch das schaffen.
Anders als zu Beginn meines Tagebuches habe ich jedoch nicht das Bedürfnis, dies öffentlich zu tun.
Außerdem wäre der Teil von mir, der hinter dem Tumor versteckt war, einen Blog nicht wert.
Und bevor ich beginne, einem Stalingradkämpfer gleich, den Rest meines Lebens über mein Rendezvous mit dem Tod zu erzählen, stürze ich mich ins Leben zurück.
In diesem Sinne: See you next month in Las Vegas!

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